Für die Fische

Es war ein Mal ein kleiner Fisch, der schwamm tief unten im Meer. Er bewegte sich elegant, geschmeidig und leicht durch das salzige Wasser, welches ihm keinen Widerstand zu bieten schien. Seine Wendigkeit, sein Lächeln und hübsche Gestalt liessen eine verzaubernde Harmonie entstehen, die alle entzückte. Der Fisch schien offensichtlich im Einklang mit sich selbst zu sein.

 

So bemerkte niemand, wie schrecklich traurig er war. In dem riesengrossen dunklen Meer konnte er fast nichts sehen, nur den leichten Schimmer eines Lichtes aus der weit entfernten Oberfläche, über die er nie treten durfte. Es wurde immer gesagt, dass es den Lebewesen des Wassers nicht möglich war, oberhalb dieser Grenze atmen zu können.

 

Da er auch nicht sprechen konnte, fühlte er sich unendlich alleine. Doch das schlimmste war nicht die Einsamkeit, auch nicht die Traurigkeit, sondern eine ungeheure Angst, von einem grösseren Fisch aufgefressen zu werden. Diese Angst war so unerträglich, dass er eine immer stärkere Sehnsucht verspürte durch die verbotene Grenze zu treten, um eine neue Welt zu entdecken. Er glaubte nicht dem Gerücht, an Land ersticken zu müssen. 

 

Noch hatte das Fischlein nicht genug Mut und Vertrauen in sein Vorhaben. Um mehr Sicherheit zu erlangen, suchte er nach Verbündeten und schloss sich einem Schwarm an. Diesen versuchte er immer wieder seinen Traum näher zu bringen, in dem er zielstrebig Richtung Oberfläche zischte. Die Fische im Rudel waren jedoch so damit beschäftigt hektisch durchs Meer zu schwimmen, dass sie keine Zeit hatten, sich zu fragen, ob es nicht doch andere Möglichkeiten gäbe, zu leben.

 

Eines Tages konnte der der kleine Fisch die Angst nicht mehr ertragen. Er setzte sich an die Spitze der Gruppe und führte sie nach oben, wo das Licht herkam. Seine Freunde waren neugierig, da er entschlossener als je zuvor schwam und folgten ihm weiter als gewohnt. Letztlich blieben sie aber stehen und erstarrten in Bewunderung und Neid, als der kleine Fisch mit einem gewaltigen Satz aus dem Wasser sprang.

 

Er landete auf der Erde, öffnete den Mund und atmete fest ein. Zu seiner grossen Überraschung strömte die Luft tiefer in seinen kleinen Körper, als je zuvor. Ohne den Druck des Wassers formte sich etwas eigenartiges in seinem Mund, das sich bewegen konnte. Mit der herrlichen frischen Luft war es ihm plötzlich möglich zu sprechen. Der Fisch stiess einen Schrei aus sich heraus, so laut er konnte, ein Ruf voller Freude und Euphorie. Er hatte es gewagt, ein wunderschönes Land zu entdecken, in dem er viel weiter sehen konnte, viel besser hörte, mehr roch, vielseitig schmeckte und die Wärme der Sonne spürte.

 

In ihm entstand eine unglaubliches Gefühl der Freiheit und Zufriedenheit, wenngleich die Angst nicht ganz verschwand. Vielleicht gab es ja auch hier Kreaturen, die ihn fressen wollten und vielleicht musste er für immer alleine bleiben. Dennoch dachte er nicht daran, je ins Meer zurückzukehren, da die Schönheit dieser neuen Welt die Angst und die Einsamkeit viel erträglicher machten. Darüber hinaus war seine Sehnsucht etwas Neues suchen zu müssen nicht mehr in seinen Flossen, die ihm abfielen und zu Armen und Beinen wurden. 

 

Schliesslich fing das Fischlein an, geduldig kleine Steinchen ins Wasser zu werfen: Er wollte seine Freunde informieren, dass es möglich war, über der Oberfläche des Meeres zu leben und er nicht willens war zurückzukehren. Als er Luftbläschen aufsteigen sah, die seine Freunde aus dem Wasser nach oben sendeten, war er glücklich, dass sie ihm antworteten und ihn zu verstehen schienen.

 

Plötzlich traute sich ein Fisch nach dem anderen aus dem Wasser zu treten und alle teilten sie die Begeisterung der neu gewonnenen Möglichkeiten. Die Tatsache, dass sie nun miteinander sprechen konnten, machte sie so glücklich, dass sie sich wie neu geboren fühlten. Ein immenses Urvertrauen stieg in ihnen auf und gegenseitig bestärkten sie sich, da sie nicht mehr so einsam waren. Es blieb nur die Angst gefressen zu werden oder einen Freund zu verlieren. Gemeinsam wollten sie sich diesen Gefahren stellen, die niemand ausschalten konnte und die immer existieren werden. Sie schworen sich etwas: 

 

WIR SIND ALLE UNTERSCHIEDLICH GLEICH UND GEHÖREN ZUSAMMEN.

VERSUCHEN WIR UNS IN UNSERER VERSCHIEDENHEIT ZU VERSTEHEN.

DAZU DÜRFEN WIR UNS AUFMERKSAMKEIT UND ZUNEIGUNG SCHENKEN. 

VERGEBEN WIR UNS, WENN WIR UNS MISSVERSTEHEN UND FEHLER MACHEN.

VERBINDEN WIR UNS IN DANKBARKEIT, BERÜHREN WIR UNS IN ZÄRTLICHKEIT 

UND ERLAUBEN WIR UNS, ES ZU WAGEN NEUES TERRAIN ZU ERKUNDEN,

WENN ES UNS ZU ENG WIRD!

 

Alle verstanden sie diesen Schwur, welcher zu ihrer elementaren Grundregel wurde, der Regel der Fische, die ans Land kamen. Damit diese Regel der Natur nicht zu kompliziert wurde, nannten sie diese kurz und einfach: LIEBE !!! Unter dem Schutz der Liebe waren sie stärker und befreiter von Angst und Einsamkeit. Zusätzlich verzichteten sie auf den Verzehr von Fleisch und ernährten sich fortan von der Fülle der Nahrungsmittel, die sich ihnen in der neuen Welt bot.

 

Mit der Zeit traten immer mehr und mehr Fische an Land. Die Gefahren und die Angst stieg allmählich wieder an, da nicht alle die Grundregel der Natur befolgten. Im Laufe von Millionen Jahren wurden viele neue Regeln erfunden, die alle den guten Zweck hatten, die Gefahren und die Angst in Zaum zu halten. 

 

Doch konnte die Unmenge an Regeln und Gesetzen, die sich ständig änderten, nicht verhindern, dass die grösseren Fische immer häufiger die kleinen Fische auffrassen. Sie wurden gierig und stetig fetter und fetter. Bald kontrollierten sie grosse Gebiete des schönen Landes. Sie waren es auch, welche noch mehr Gesetze zu ihren Gunsten aufstellten und diese von Generation zu Generation weitergaben. 

 

Der Schwur der Liebe geriet in der Vielzahl an Regeln zusehens in Vergessenheit. Er wurde zu einer Legende, zu einem mystischen Geheimnis. Als schliesslich all die neuen Regeln die Fische dominierten und ihr Leben wieder hektisch und schnell wurde, sprach aus ihnen plötzlich nicht mehr ihr Gefühl, sondern nur mehr der Verstand, der die ganze Regeln erklärte. 

 

Eine grosse Sehnsucht erfüllte ihre Herzen wieder, eine Sehnsucht nach der Liebe. Jedes Mal, wenn die Fische ein herzzerreissendes Buch, einen schönen Film, eine berührende Musik oder einer ergreifenden Malerei der Natur wahrnahmen, welche über den Mythos der Liebe erzählte, fühlten sie sich zu tiefst gerührt und ergriffen. Noch immer konnten sie die Legende von der Liebe so gut verstehen und nachvollziehen. Es steckte so tief in den Fischen, dass sich die Sehnsucht noch verstärkte. Dieses Gefühl war so stark, dass die Fische oft weinten.

 

Dann geschah etwas grauenvolles. Viele Fische konnten nicht ein Mal mehr weinen, denn selbst dies wurde durch die neuen Regeln verboten. Die Fische waren zu einer anderen Art geworden und sie nannten sich nun Menschen.

 

Die Legende der Liebe lebt jedoch bis heute weiter. Immer noch haben manche Menschen den Mut scheinbar unüberwindbare Grenzen zu überschreiten, um neue Universen zu entdecken. Vom Himmel aus werfen sie mit kleinen Steinchen, mit Sternschnuppen und wärmenden Lichtern auf die Erde, um uns zu helfen, die elementare Grundregel der Natur, die Liebe, wieder zu finden. 

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